Es ist an der Zeit, erwachsen zu leben

Falls ich es noch nicht erwähnt habe, ich denke viel.

Manchmal vielleicht sogar zu viel. Im großen und ganzen denke ich aber auch einfach gern. Ich denke gerne nach oder sinniere vor mich hin.

Was mich dabei oft antreibt, ist mein Bestreben, Menschen verstehen zu wollen. Ich möchte wissen, wie sie so geworden sind, wie sie sind. Weshalb sie so fühlen, denken und sich letztendlich auch so verhalten.

Nicht um irgendetwas rechtfertigen zu wollen, sondern weil es mich wirklich interessiert. Weil ich es nachvollziehen möchte. Weil ich verstehen möchte. Andere und mich selbst natürlich auch.

Auf meiner heutigen Gassi-Runde trieb mich die Frage um, weshalb so viele Menschen gegen ihre innere Überzeugung agieren. Also im ersten Moment vielleicht nicht. Aber irgendwann halten sie nicht mehr an dem fest, von dem sie anfangs überzeugt gewesen waren und handeln genau entgegen gesetzt.

Meist schaue ich dann zurück, wenn ich verstehen will. In die Vergangenheit. Oft in unsere Kindheit. Die natürlich bei jedem Menschen individuell ausgefallen ist und dennoch kann ich oft gewisse Parallelen entdecken.

Wie oft mussten wir als Kind gegen unsere inneren Überzeugungen handeln?

Wie oft trugen wir etwas ganz anderes in uns, als das, was wir tun mussten?

Wie oft haben wir uns dagegen aufgelehnt? Haben Widerstand geleistet? Wollten unser Inneres auch im außen leben?

Und wie oft kamen wir damit nicht durch?

Wie oft wurde der, auf uns ausgeübte Druck immer größer?

Wie oft wurde unser Willen gebrochen?

Wie oft haben wir uns dann gebeugt, nur damit wieder Frieden einkehren konnte?

Unsere eigenen Kinder sind mit einem ausgeprägten Willen zu uns gekommen. Ich habe sie oft dafür bewundert, manchmal auch verwünscht, mit welchem Mut sie sich uns entgegengestellt haben. Bereit, alles in die Waagschale zu werfen, um für ihre Überzeugung gehen zu können.

Ja, ich habe oft versucht, sie von meinen Einstellungen zu überzeugen und ich habe sie nie in ihrem Willen gebrochen. Das hätte mich selbst in meinem Mutter-Sein gebrochen.

Unsere Kinder haben erfahren, dass es sich lohnt, für ihre Überzeugungen einzustehen. Für diese zu kämpfen. Und um mit mir in den Ring zu steigen, braucht es tatsächlich einiges an Willensstärke. Sie haben es oft gewagt und sie haben meistens gewonnen.

Kindheitserfahrungen sind prägend, doch sie können ihre Schatten in die Gegenwart nur solange werfen, solange wir ihnen die Macht weiterhin über unser Leben verleihen.

Wenn wir verstehen, weshalb wir uns so verhalten, wie wir es tun, haben wir die Möglichkeit auszusteigen.

Wir haben die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu machen. Vielleicht fallen wir dabei hin. Dann können wir wieder aufstehen und es noch einmal versuchen. Wir können unser Verhalten ändern. Jeden Tag.

Wir sind keine Kinder mehr.

Wir sind jetzt erwachsen.

Es ist an der Zeit, auch erwachsen zu leben.

Für uns.

Und für unsere Kinder.

2 Antworten auf „Es ist an der Zeit, erwachsen zu leben“

  1. Vielen Dank feine Gedanken, liebe Sylvia.

    Im letzten Sommer habe ich eine 70jährige Frau aus Österreich kennen gelernt. Viele würden sagen, eine einfache Frau, weil sie ihr Leben lang schwer auf einem Bauernhof gearbeitet hat und noch eine Putzstelle hatte. Ich habe sie enorm klar in ihrem Fühlen und Denken erlebt, feinfühlig und vollkommen angebunden.
    In den unseren Gesprächen sagte sie: “ es kommt mir so vor, als wären die Leute im Augenblick alle Kinder und es wird Zeit, dass wir endlich erwachsen werden.“ Das war für mich die klarste Aussage zur „Krise“. Daran erinnerte ich mich, als ich deinen Text gelesen habe.

    1. Liebe Petra,
      ich habe auch den Eindruck, dass viele Menschen irgendwo in der Pubertät stecken geblieben sind. Erwachsene Menschen, die noch immer nicht in der Lage sind, eigene Entscheidungen zu treffen und für diese dann auch die Verantwortung zu übernehmen.
      Ich danke dir für dein Erzählen.

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